Kontinentenwechsel. Nach dem Nahen und Mittleren Osten führt die Reise nun über den Atlantik. 92 Arbeiten von 59 Künstlern zeigt das Museum Es Baluard in Palma bis Sonntag, 2. Oktober. Die Werke stammen alle aus mallorquinischen Sammlungen, ein paar wenige auch aus dem Fundus des Museums.
"El turment i l'extàsi" (Qual und Extase) ist die Ausstellung überschrieben. "Wie eine Initiationsreise" sei sie konzipiert, sagt Nekane Aramburu, Direktorin des Es Baluard und Kuratorin der Schau. Diese Reise führt durch vier thematische Landschaften: Leidenschaft, Schönheit, Ideologie und Konflikt.
Zugleich spiegelt sie die große Bandbreite der Arbeiten wider - Zeichnungen und Malerei, Fotografie und Videos, Skulpturen und Installationen, von denen die einen für sich und die anderen im Kontext der Geschehnisse ihres Landes stehen. All diese Arbeiten hat Aramburu sprichwörtlich in Szene gesetzt. Die Ausstellung vergleicht sie mit einer Aufführungsprobe, bei der Stücke gemeinsam auftreten, die sonst getrennt voneinander existieren. Für diese Schau hat sie deshalb einen Beleuchter die Werke in ein Licht rücken lassen, das Schatten wirft und das Präsentierte infrage stellt, "weil nichts real scheint", wie sie sagt.
Bei der Schau konnte die Museumsdirektorin auf die Mitarbeit, vor allem auf einen Katalogtext, von Gerardo Mosquera zählen. Der Kubaner, der unter anderem von 2011 bis 2013 das internationale Fotografie-Festival Photo España in Madrid leitete, ist ein international anerkannter Kurator, Kritiker und Kunsthistoriker.
Zur Eröffnung der Ausstellung war Mosquera eigens nach Palma gereist und meinte: "Ich war überrascht, wie viele Sammler lateinamerikanischer Kunst es auf einer kleinen Insel wie Mallorca gibt." Auch für die Ausstellung war er vollen Lobes: "Sie vereint einige der bedeutendsten Vertreter der gegenwärtigen lateinamerikanischen Kunst", urteilte er und fügte hinzu: "In vielen Fällen handelt es sich um kleine Arbeiten, denn sie sind aus privaten Sammlungen. Aber in jedem Fall sind es gute Arbeiten."
Aber was heißt eigentlich lateinamerikanische Kunst? Mosquera benutzt diesen Begriff mit aller Vorsicht und stellt klar: "Ich war schon gegen die totalisierende Idee einer lateinamerikanischen Kunst und halte es für notwendig, die Kunst außerhalb solcher Vereinheitlichung zu sehen."
Zugleich räumt er ein, dass der Vielseitigkeit gemeinsame Elemente gegenüberstehen, etwa die Geschichte des iberischen Kolonialismus, der Katholizismus, die Unabhängigkeitsprozesse, eine starke Präsenz indigener Kulturen in diesen Ländern sowie der afrikanische Einfluss durch die früheren Sklaven.
Das Aufeinandertreffen von Völkern und Kulturen, so Mosquera weiter, habe aus dem süd- und mittelamerikanischen Kontinent ein "enormes Laboratorium" gemacht: "Daraus entstand eine Identitätsneurose: Wer sind wir, Afrikaner, Eingeborene, Europäer zweiter Klasse, Mischlinge, Hybride, oder sind wir eine kosmische Rasse, wie es der mexikanische Politiker, Schriftsteller und Philosoph José Vasconcelos sagte?"
Im Text des Ausstellungskataloges weist der Kunsthistoriker in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Idee einer lateinamerikanischen Kunst noch relativ jung ist und auf die 50er Jahre zurückgeht, vor allem auf das Werk einer sehr einflussreichen argentinischen Kunsthistorikerin, Marta Traba (1930-1984).
Doch inzwischen ändert sich der Blickwinkel erneut. Und so sagt Mosquera: "Mir scheint es in Anbetracht der Komplexität und der Pluralität einer internationalisierten und globalisierten Welt nützlicher, Lateinamerika als Gesamtheit von Fragmenten zu sehen, anstatt auf dieses Konstrukt einer lateinamerikanischen Kunst zu beharren, das meist als homogen gedacht wird."
(aus MM 28/2016)