Jeden Morgen um 8.30 Uhr kommt Helga Voigt in den Frühstücksraum im Hostal Alzina. Manchmal ist es vielleicht ein paar Minuten später, aber der Sitzplatz, der ist immer derselbe. Nah beim Büfett, mit gutem Blick auf den Raum. "Handtuchwerfen" um ihren Platz zu sichern, das braucht sie in der Regel nicht - schließlich markieren ein kleines Blumensträußchen und ein Teelicht ihr Revier eigentlich recht deutlich, findet sie. Nur ein Mal, erinnert sie sich, habe eine junge Frau auf ihrem Platz gesessen, als sie zum Frühstück kam. "Naja, aber die war nicht von hier", kommentiert Voigt stirnrunzelnd und nippt an ihrem Tee.
Wenn man es genau nimmt, kommt die Rentnerin auch nicht von hier. Offiziell ist die Berlinerin nicht einmal Mallorca-Residentin, hat keinen Mietvertrag auf der Insel und ist auch bei keinem Bürgeramt in Spanien gemeldet. Sie hat Touristenstatus, wohnt im Hotel. Und doch verbringt sie mehr Zeit auf der Insel als so mancher pendelnder deutscher Fincabesitzer.
Von Anfang November bis Ende März lebt sie in dem günstigen Hotel in Cala Rajada, fünf Monate, jedes Jahr. "Seit über zehn Jahren, zwölf vielleicht", versucht die Rentnerin zu rekonstruieren. "In den ersten Jahren waren es nur drei Wochen, aber dann wurde mein Aufenthalt jedes Jahr länger."
Ihr Hotelzimmer ist klein, aber gemütlich, Bett und Schrank füllen es fast vollständig aus. Im angeschlossenen privaten Bad wäscht Helga Voigt ihre Kleidung mit der Hand. "Mir fehlt hier keine Waschmaschine. Und eine Küche erst recht nicht. In Deutschland benutze ich auch immer nur meine Mikrowelle", erzählt sie und muss selbst lachen. "Ich bin vielleicht auch ein Sonderfall." Einen Kalender hat sich Helga Voigt aufgehängt, ansonsten hat sie an der Dekoration nichts geändert. Selbstredend - auch das Zimmer ist jedes Jahr dasselbe.
Esperança Pons Alzina weiß, dass Voigt es gerne beständig mag. Sie, ihr Bruder Nicolás, ihr Sohn David und auch ihre Eltern kennen die Bedürfnisse ihrer Wintergäste. Die drei Generationen führen das Hotel am Kreisverkehr an der Hauptstraße Carrer de l'Agulla gemeinsam, seit 1962 ist es in Familienbesitz. "Wir versuchen gar nicht, mit den großen Ketten zu konkurrieren", erzählt sie.
Sterne hat das Hostal Alzina nicht, auch Serranoschinken oder andere hochwertige Speisen sucht man am Frühstücksbüfett vergeblich. "Wer das will, der ist hier falsch. Dafür stimmt der Preis und wir bereiten alle Speisen selber zu. Und bei uns sind die Gäste keine Nummern." Im Gegenteil, die Atmosphäre ist bewusst familiär, man kennt sich.
Kein Wunder – fast alle Gäste, die in den Wintermonaten ins Hostal Alzina kommen, sind jedes Jahr aufs Neue da. Kommt jemand in den Frühstückssaal, der noch nie da war, werden unauffällig die Hälse gereckt. "Hier kennt man seine Pappenheimer", bestätigt auch Voigt. "Ich habe hier mehr Bekannte als in meiner Heimat Berlin, manchmal komme ich nicht einmal zum Lesen." Auch deshalb zieht sie das Hotelleben einer Ferienwohnung vor. "Da wäre es mir zu einsam."
Das heimelige Konzept des Hostals Alzina scheint aufzugehen. Im Sommer ist es ein Hotel von unzähligen im überlaufenen Touristenort Cala Rajada, im Winter dagegen, wenn ganze Straßenzüge zu Geistersiedlungen werden, ist Alzina fast die einzige Unterkunft, die durchgängig geöffnet hat. "Früher gab es generell mehr Menschen, die auf der Insel überwintern wollten, es sind weniger geworden", berichtet Esperança Pons Alzina. Und doch: Nicht wenige Gäste bleiben im Winter mehrere Wochen und manche, wie Helga Voigt, sogar Monate.
So auch Fuad und Zilal Dehne. Das Rentnerehepaar in den Siebzigern ist im zehnten Jahr in Folge zu Gast. Etwa drei Monate werden sie bleiben. "Wir haben noch keinen Rückflug gebucht", erzählt Fuad Dehne und streicht sich Marmelade aufs Frühstücksbrot. Mit seiner Frau genießt er die milden Temperaturen, den täglichen Reinigungsservice auf dem Zimmer und den Tapetenwechsel.
Jeden Tag gehen die beiden durch Cala Rajada spazieren, essen auswärts kleine Snacks und treffen auf Bekannte. "Man kennt mit der Zeit viele im Dorf, hauptsächlich Deutsche", berichten sie. "Eine Zeit lang haben wir versucht, jemanden von hier zu finden, der über den Winter in unserer Wohnung in Göttingen wohnen will, und uns dafür seine gibt, Wohnungstausch quasi", berichtet Fuad Dehne. Aber niemand fand sich. "Ist aber nicht schlimm, wir fühlen uns hier im Hotel auch wie zu Hause."
Zu Hause fühlt sich Frank Wargalla auf Mallorca nicht. "Ich bin ein Großstadtmensch", sagt der Hannoveraner. Trotzdem verbringt er jedes Jahr rund 120 Tage auf der Insel, ist in kurzen Abständen für ein paar Wochen da. "Es ist ein Ausgleich zum Leben in Deutschland", sagt Wargalla und grinst freundlich. Auch er kommt in der Regel im Hostal Alzina unter. Dann wohnen die Hunde der Hotelbesitzer bei ihm im Zimmer, er führt sie aus, versorgt sie. "Jedes Mal ist der Abschied schwer, aber ich komme ja meist schnell wieder zurück."
Ein bisschen Spanisch hat er in den vergangenen acht Jahren gelernt, sogar ein paar Wörter Mallorquinisch. Abends sitzt er oft mit deutschen Gästen oder Residenten in der Lobby. Sie ist für deutsche Überwinterer in Cala Rajada wie ein kleiner Treffpunkt geworden ist. Genau wie für Dorffreunde der alten Alzina-Generation, die sich am Nebentisch postieren. "Da schnappt man schon was auf", so Wargalla.
Draußen auf der Terrasse sitzt Meinolf Berndes in der morgendlichen Wintersonne, liest Zeitung und genießt das Wetter. Obwohl er nur ein bis zwei Wochen pro Winter im Hostal Alzina zu Gast ist, kennt er die meisten Dauergäste und das Personal - immerhin kommt er jedes Jahr, seit 1987. "Ich freue mich immer wieder. Aber überwintern, das könnte ich mir nicht vorstellen", sagt er und lacht. "Dafür ist mir die Luftfeuchtigkeit auf der Insel zu hoch, und dann verliert es vielleicht auch den Reiz."
Dieser Reiz des Rauskommens, des Deutschland-den-Rücken-zuwendens und dann doch Zurückkommens, des Abschaltens - oder kurz: des Urlaubs - ist es, den auch die Überwinterer im Hostal Alzina suchen. Keiner von denen, die mit dem MM sprechen, kann sich vorstellen, dauerhaft nach Mallorca zu ziehen, selbst Helga Voigt nicht. "Ich muss mich doch darauf freuen können", erklärt sie. "Und wenn man hierhin zieht, dann kommen Alltagsprobleme und Verpflichtungen hinzu, dann ist es nicht mehr dasselbe", ist sie sich sicher.
Dass es Probleme auch im Urlaub geben kann, ist ihr bewusst, erst recht, wenn der Urlaub fünf Monate andauert. Im vergangenen Jahr wurde sie während ihrer Zeit auf Mallorca plötzlich krank, musste ins Krankenhaus und stand zwischen den Stühlen. Denn als Langzeiturlauberin mit mehr als sechs Wochen Aufenthalt ist sie weder in Spanien versichert noch übernimmt die deutsche Krankenkasse.
"Das war keine schöne Erfahrung, und dann musste ich selbst zahlen", erinnert sie sich. Trotzdem ist sie wiedergekommen und wird es auch in den nächsten Jahren tun. Mit einer privaten Krankenversicherung. Und mit neuer Vorfreude auf einen langen Urlaub.
(aus MM 51/2015)