Unübersehbar ragt der Obelisk in der Mitte des Platzes in die Höhe. „La pirámide”, die Pyramide, nennen die Einwohner von Ciutadella das spitz zulaufende Gebilde, auch wenn es nichts mit den Prachtbauten antiker Pharaonen gemein hat. Auf dem wuchtigen Podest, das den Obelisken in den klaren Himmel schultert, ist auf drei Tafeln eine lateinische Inschrift zu lesen. Übersetzt bedeutet sie: „Hier haben wir widerstanden, für die Altäre und Herdstellen, bis in den Tod.”
Rund um diese martialische Architektur ist pure Schönheit zu finden. Die Plaza des Born der ehemaligen Inselhauptstadt ist gesäumt von herrschaftlichen Patrizierhäusern im Renaissance- und Klassizismus-Stil. Daneben weist das Rathaus der menorquinischen Metropole neogotische Elemente auf. Grünanlagen und eine Aussichtsbalustrade mit Blick auf den in der Tiefe liegenden Naturhafen geben dem Gesamtensemble eine geradezu ehrwürdige mediterrane Gediegenheit. Unterdessen flanieren die Einwohner gemächlich über den Platz, suchen die Läden und die Lokale in der nahegelegenen Altstadt auf. Teenager lachen und flirten im Schatten der Säulen des Rathauses, das vor genau 100 Jahren vollendet wurde. Über ihnen zieht allmählich der Abend auf, lassen die Straßenlaternen sternenfarbenes Licht erstrahlen. Ein friedvollerer Anblick ist kaum vorstellbar.
Und dennoch ist die Plaza des Born einst Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen. Im Jahre 1558 hatte die Flotte des osmanischen Sultans die Stadt auf der östlichsten Insel Spaniens attackiert. 15.000 Musulmanen umzingelten die Bastion, griffen die Mauern mit Feuergeschossen an. Die rund 6500 Menschen in der eingekesselten Hafenstadt, unter ihnen nur 650 wehrfähige Männer, verteidigten sich verzweifelt und widerstanden ganze neun Tage. Nachts, wenn die Kämpfe wegen der Dunkelheit abflauten, waren es die Frauen und Kinder, die die in die Mauern geschlagenen Breschen wieder notdürftig mit Steinen und Baumaterialien auszubessern versuchten. Hilfe, die in Mahón im Osten von Menorca sowie auch auf Mallorca angefordert wurde, traf nicht ein. Dann, am 9. Juli, stürmten die Türken die ausgehungerte und brennende Stadt, die letzten Verteidiger wurden auf dem Platz vor der alten Zitadelle, die noch aus karthagischer Zeit stammte, niedergemacht, genau dort, wo ihnen zum Gedenken ein knappes Jahrhundert später jener Obelisk errichtet wurde. Er lässt exakt seit 1658 seinen Schatten im Sonnenverlauf über die Plaça wandern.
Auch interessant: das städtische Museum Can Saura
Wie kaum eine andere Katastrophe hat sich diese Niederlage in die kollektive Erinnerung der Stadt eingebrannt. Im städtischen Museum Can Saura ist eine ganze Abteilung dem historischen Ereignis gewidmet. Damals wurden von den Osmanen 4000 Menschen als Sklaven nach Istanbul entführt, man wollte von ihren Angehörigen Lösegeldzahlungen erpressen. Viele der Entführten sahen ihre Heimat nie wieder, wenige konnten nach Jahrzehnten freigekauft werden. Ein Gremium, dass die darüber verwaisten Immobilien und Ackerbauflächen der Entführten verwaltete, hatte am Ende gar kein allzu großes Interesse daran, dass deren Besitzer tatsächlich zurückkehrten. Denn es lebte sich auch so ganz recht vom Management der Liegenschaften, wie in dem Museum auf Schautafeln nachgelesen werden kann ...
Angesichts dieser blutgetränkten Vergangenheit nimmt es kein Wunder, dass man in Ciutadella neben dem Tod auch das Leben zu würdigen weiß, und zwar in einer Ausgelassenheit, für die die Sant-Joan-Feste in der Stadt ihre sprichwörtliche Berühmtheit haben. Etwa wenn herrlich ausstaffierte Reiter ihre schwarzen Rösser über die Plätze durch riesige Menschenmenge treiben und das Fußvolk geradezu todesmutig versucht, die sich aufbäumenden Rappen wie ein Heiligtum mit der Hand zu berühren ...
Wer auch im Winter einen Eindruck von diesem frenetischen Sommerfest haben möchte, wird ebenfalls im Stadtmuseum fündig. Neben reichlich Exponaten nimmt ein Dokumentarfilm auf einer Großleinwand den Betrachter optisch regelrecht mitten hinein ins Getümmel.
Doch derzeit, in den kühlen Wintertagen, wirkt die Stadt von einer traumhaft betörenden Beschaulichkeit. Besucher bekommen ein Gefühl, alles für sich alleine zu haben. Was nicht bedeutet, dass Ciutadella eine Stadt ohne Leben ist. Die Bars und Geschäfte sowie die historische Markthalle von 1869 haben geöffnet, die Kultureinrichtungen ebenso, im Theater finden Konzerte und Aufführungen statt, das einzige Kino am Ort ist in Betrieb, die öffentlichen Verkehrsmittel fahren pünktlich. Doch wer das Zentrum verlässt und sich auf die Meerespromenaden begibt, der stellt fest, wie der Autoverkehr mit jedem Schritt abebbt und sich als Grundrauschen nur noch Wind und Wellen sowie allenfalls das Kreischen einzelner Möwen vernehmen lässt.
Club Náutico: Hier trifft sich die urbane Gesellschaft
Und sonntags trifft sich die Crème de la Crème der urbanen Gesellschaft im Restaurant des Club Náutico, dessen Gebäude mit seinen breiten Glasfronten aquariumähnlich seit 1970 über dem Hafen thront und den Blick in alle Richtungen auf Boote, Yachten, Klippen und das ewige Meer freigibt. Wer in dem 1927 gegründeten Verein verkehrt, hat zumeist sowohl segelnde Großeltern als auch Enkel und somit Gischt und Seewind in den Genen. An Land hingegen weiß man das Leben zu feiern, unaufgeregt, in geselliger Runde am Vormittag, bei Bier, Wein und Aperol sowie der Spezialität des Hauses: Calamares a la Romana. Und schon beim ersten Biss in die kross panierten Tintenfischringe wird deutlich, dass Ciutadella zu Recht eine Stadt von ganz besonderem Stolz und Flair ist.