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Leichenfunde

Immer mehr Tote an Stränden auf Mallorca: Was es mit den vielen Leichenfunden auf sich hat

Bei vielen der angespülten Körper handelt es sich um verunglückte Bootsflüchtlinge. Die Seenotrettung der Insel rechnet mit weiteren Vorfällen im Sommer

An den Stränden von Mallorca sind in den vergangenen Wochen mehrere Tote angespült worden. | Archiv

| Palma, Mallorca | |

Das Wasser brennt in den Lungen. Die Schreie sind längst verstummt, verschluckt vom tosenden Meer zwischen Mallorca und Nordafrika. Der Himmel über dem Mittelmeer ist sternenklar, doch die Wellen schwarz wie der Tod. Sie heben und senken die Überlebenden, drehen sie wie Treibholz, während der Wind ihre Körper auskühlt.

Ohne Rettungsweste ist die Erschöpfung bereits nach wenigen Minuten spürbar. Die Muskeln zittern, jeder Versuch, sich über Wasser zu halten, kostet Kraft. Erst kämpfen sie noch. Sie schlagen um sich, versuchen, aneinander Halt zu finden, doch irgendwann wird der Körper schwer. Ein Meter hohe Wellen sind keine Monster, aber sie reichen, um einen Nichtschwimmer immer wieder unter Wasser zu drücken, um ihm sekundenlang die Luft zu nehmen. Panik setzt ein. Die ersten geben auf und tauchen nicht mehr auf.

Wer eine Rettungsweste trägt, hat mehr Zeit – aber nicht unbedingt mehr Hoffnung. Sie sehen, wie die anderen untergehen. Sie wissen, dass niemand kommt. Die nassen Kleider saugen sich voll Wasser, sie wiegen plötzlich Tonnen. Manche versuchen, sich an Wrackteilen festzuhalten, aber das Boot ist längst verschwunden. Mit jedem Wellenschlag verschluckt das Mittelmeer seine Opfer, eins nach dem anderen. Nach einer Stunde sind die meisten tot. Erschöpft, ertrunken, erstickt an Salzwasser. Die Überlebenden treiben mit leerem Blick auf dem Wasser, beten vielleicht, oder sie haben längst aufgehört, sich zu wehren. Manche kämpfen bis zum Morgengrauen. Wenige haben Glück. Viele werden erst gefunden, wenn das Meer sie an den Strand spült.

Eine der größten Tragödien unserer Zeit

So oder ähnlich spielt sich eine der vielleicht größten menschlichen Tragödien unserer Zeit tagtäglich im Mittelmeer ab, irgendwo zwischen der nordafrikanischen Küste und den Stränden Spaniens. Und diese Tragödie wird in den kommenden Monaten noch sichtbarer werden. Denn mit dem Sommerbeginn wird es nicht nur eine neue Welle an Urlaubern geben, sondern auch eine Welle an Leichen. Menschen, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg gemacht haben, nur um in einem anonymen Massengrab am Meeresgrund zu enden – oder an den Stränden Europas angespült zu werden.

Jüngster Fall: Am vergangenen Montag wurde an der Cala Mesquida im Nordosten Mallorcas eine stark verweste Leiche entdeckt. Der Mann trug eine orangefarbene Rettungsweste, aber keine Papiere. Die Ermittler vermuten, dass er von einem der Boote stammt, die regelmäßig von Nordafrika aus aufbrechen. Und er war nicht der einzige: In den vergangenen zwei Wochen wurden sechs weitere Leichen an die Strände der Balearen gespült. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Mindestens 27 Personen gelten derzeit als verschollen.

Prognosen für den Sommer sind alarmierend

Die Prognosen für den Sommer sind alarmierend. „Es gab viele Schiffbrüche von kleinen Booten, und die Toten werden ans Tageslicht kommen”, berichten Quellen aus der Seenotrettung. Besonders makaber: Die Leichen werden nicht irgendwo angespült, sondern dort, wo Familien Urlaub machen. Kinder, die beim Schnorcheln auf verweste Körper unter Wasser stoßen. Eltern, die in der Sonne liegen, während nur wenige Meter entfernt eine Leiche am Ufer treibt. Ein Stück erschreckender Realität, das von Jahr zu Jahr größer wird.

Ein altes, ungelöstes Problem

Die Migrationskrise im Mittelmeer ist kein neues Problem, sondern ein altes, ungelöstes. Seit über 18 Jahren versuchen Menschen aus Nordafrika und Subsahara-Afrika, auf den Balearen europäischen Boden zu erreichen. Doch die Boote, mit denen sie aufbrechen, sind nicht für die raue See gemacht. Sie sind überfüllt, instabil, oft ohne genügend Treibstoff oder Wasser. Sie zu besteigen, kommt einem Todesurteil gleich.

Die Guardia Civil in Palma geht mittlerweile davon aus, dass der Hauptgrund für die steigende Zahl der angeschwemmten Leichen die wachsende Gier der Schlepper ist. Die Boote werden immer voller, um die „Transportkosten” zu maximieren. Jeder, der zahlt, darf mitfahren – egal ob er schwimmen kann oder nicht. Wer über Bord geht, hat Pech gehabt.

Auch die Route hat sich verändert. Während früher vor allem Menschen aus Algerien oder Marokko die Überfahrt wagten, registrieren die spanischen Behörden nun immer mehr Migranten aus Eritrea, Somalia oder Mali. Sie durchqueren den gesamten Kontinent, riskieren Gefangenschaft, Folter und Hunger, nur um dann am Ziel in den Wellen unterzugehen.

Behörden stehen vor einem Dilemma

Die spanischen Behörden stehen vor einem Dilemma. Die Identifizierung der Opfer ist oft unmöglich, weil die meisten keine Ausweispapiere mit sich führen. DNA-Analysen dauern Monate oder Jahre. Die Leichen werden bis dahin in forensischen Instituten aufbewahrt, später oft anonym in Massengräbern beigesetzt. Die Familien zu Hause warten vergeblich auf ein Lebenszeichen.

„Wir wissen nicht, ob unser Sohn noch lebt oder ob er schon lange tot ist”, erklärt die Familie von Zoubir Abdelmaker gegenüber der MM-Schwesterzeitung Ultima Hora. Der junge Mann ist seit Dezember 2024 verschwunden, sein Ziel waren die Balearen. Die Familie kann nicht nach Europa reisen, um die Leichen zu identifizieren. Die spanischen Behörden wiederum können keine Auskunft geben, weil die offizielle Identifizierung noch aussteht. Ein Teufelskreis.

„Solange die Todesursache nicht geklärt und die Identität nicht bestätigt ist, können wir keine Ermittlungen einleiten”, erklärt ein Sprecher der Guardia Civil. „Wir sammeln DNA-Proben, aber ohne Vergleichsprobe von den Familien bleibt das oft ergebnislos.”

Auch die Seenotrettungszentrale in Palma schlägt Alarm: „Wir wissen, dass es noch viele unentdeckte Tote gibt. Jedes Jahr werden Hunderte von Migranten auf See vermisst, und viele ihrer Körper tauchen nie wieder auf. Es ist eine humanitäre Katastrophe, die sich direkt vor unseren Augen abspielt.”

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