Auf Mallorca verschwinden derzeit keine Luxuslimousinen und keine hochmotorisierten Sportwagen. Stattdessen trifft es ein Auto, das eher nach Picknickdecke als nach Fluchtwagen aussieht: den Seat 600. Gleich zwei Exemplare wurden zuletzt in Palmas Vorort Son Ferriol gestohlen – eines aus einer Werkstatt, eines von einem Privatgrundstück. Für die Szene der Oldtimerfreunde ist das mehr als ein Ärgernis. Es ist ein Fall mit Fragezeichen.
„Wir verstehen überhaupt nichts, aber es scheint, als hätten wir es mit einer Mafia zu tun“, erklärte einer der Betroffenen gegenüber der spanischen MM-Schwesterzeitung "Ultima Hora". Große Worte für ein kleines Auto. Denn der Seat 600 war nie ein Statussymbol für Reiche, sondern ein Volksheld auf vier schmalen Reifen – mit der Durchzugskraft eines ambitionierten Rasenmähers. Gerade deshalb wirkt der Verdacht auf organisierte Täter so befremdlich.
Oldtimer statt Beutezug
Dennoch: Auf der Insel zählt der Seat 600 zu den liebevoll gepflegten Klassikern. Ersatzteile sind gut erhältlich, bezahlbar, der Markt überschaubar. „Niemand stiehlt so ein Auto, um es auszuschlachten“, sagen Besitzer. Man kenne sich, tausche sich aus, wisse genau, woher man Teile bekommt. Ein lukrativer Schwarzmarkt? Eher ausgeschlossen. Und doch häufen sich die Fälle. Bereits im vergangenen Sommer verschwand in Son Ferriol ein Seat 600, der nicht einmal bremsen konnte. Er stand am Straßenrand, wartete auf seine Reparatur – und war plötzlich weg. Kein fahrbarer Untersatz, sondern eher ein rollendes Museumsstück. Dass selbst so ein Fahrzeug gestohlen wird, verstärkt das Unbehagen.
Was also treibt die Diebe an? Die Besitzer schließen aus, dass es um Verschrottung oder Ersatzteile geht. Stattdessen kursiert eine andere Theorie: Die Autos könnten die Insel verlassen haben, um im Ausland ein zweites Leben zu führen – nicht auf der Straße, sondern als Dekorationsobjekt. Mediterranes Flair auf Bestellung. In diesem Zusammenhang fällt ein weiterer Name: Vespa Primavera. Auch die legendären Roller gelten als begehrte Beute, wenn es um nostalgische Deko für Hotels, Restaurants oder Boutiquen geht. Klein, ikonisch, international verständlich – Eigenschaften, die auch auf den Seat 600 zutreffen.
Ein nationales Symbol auf Abwegen
Dabei ist der Seat 600 weit mehr als nur ein Oldtimer. Als spanische Lizenzversion des Fiat 600 kam er 1957 auf den Markt und wurde bis 1973 gebaut. Rund 800.000 Exemplare rollten vom Band. Er brachte die breite Bevölkerung erstmals auf vier Räder, machte Ausflüge, Urlaubsfahrten und neue Freiheiten möglich.
Mit seinem kleinen Vierzylindermotor, kaum kräftiger als ein moderner Motorroller mit Dach, war er kein Sprinter – aber ein Versprechen. Schon ein Jahr nach Produktionsstart vervielfachte sich die Nachfrage. Der 600 wurde zum Sinnbild eines Aufbruchs, lange bevor Mallorca zur Ferieninsel der Massen wurde.
Heute steht der Seat 600 für Entschleunigung und Nostalgie. Umso größer ist die Irritation, dass ausgerechnet er zum Ziel mutmaßlich organisierter Diebe wird. Auf Mallorca sorgt der kleinste Große der spanischen Automobilgeschichte plötzlich für große Unruhe – obwohl er eher zum gemütlichen Sonntagsausflug taugt als zur schnellen Flucht.