Mit einem Mal verwandelt sich das Meer in einen reißenden Fluss. Doch der Moment ist zu kurz, um darüber nachzudenken. Wie ein Hochhaus ragt die Seitenwand der Fähre in der Morgendämmerung über dem Wasser auf, während das schnittige Boot des Hafenlotsen in voller Fahrt längsseits geht. Beide Schiffe pflügen parallel zueinander in Richtung Palma, bei sieben Knoten, das sind 13 Stundenkilometer, was sich auf See verdammt schnell anfühlt.
Immer enger wird der freie Raum zwischen den Schiffen, während das Wasser zischt und wie ein gischtiger Schwall hindurchschießt. Aus der dunklen Bordwand der Fähre leuchtet einige Meter über dem Wasser eine quadratische Öffnung: Die Luke für den Lotsen, der an Bord der Fähre gehen soll, ist weithin sichtbar geöffnet, eine mit Holzstreben verstärkte Strickleiter hängt heraus, baumelt im Fahrtwind. Jetzt sind es nur noch wenige Zentimeter, die die Schiffe voneinander trennen.
Das ist der Moment für José Antonio Pérez. Bevor die Schiffskörper sich touchieren, ergreift der Seemann in der Rettungsweste die Strickleiter, erklimmt kletternd die Höhe und wird im Nu von zwei Matrosen durch die Luke ins Innere der Fähre gezogen. Geschafft! Schon stieben die beiden Schiffe auseinander, weitet sich die Distanz, öffnet sich das weiße Wildwasser wieder zum gewellten Meer.
Bis zu zehn Einsätze dieser Art hat José Antonio Pérez in seiner Zwölf-Stunden-Schicht zu absolvieren. Der Hafenlotse empfängt nicht nur einlaufende Schiffe am Treffpunkt zwei Seemeilen vor dem Hafen, sondern begleitet sie auch wieder hinaus. Will heißen: Sobald sie wieder am Grenzpunkt sind, springt der Lotse von Fähre und Mega-Yacht, von Frachter und Kreuzfahrschiff zurück auf das kleine Lotsenboot, das auf Spanisch "Práctico" genannt wird.
Ein ebenso praktisches wie wendiges Schiff. 11,8 Meter lang, 3,7 Meter breit, lässt es sich pfeilschnell manövrieren, wie ein Querfeldein-Motorrad unter Monstertrucks. Dafür bringt jede Welle die Metall-Nussschale gehörig zum Schaukeln. Der schlichte Aufbau an Deck erlaubt der Besatzung Dank eines zentralen Rundum-Geländers freien Zugang zu allen Seiten. Das ist ergonomisch, insbesondere wenn der Lotse wie im Hop-on-hop-off-Verfahren agieren muss, um den Arbeitsplatz zu wechseln. Ist er einmal an Bord des Gastschiffes geklettert, wird er unverzüglich zur Kommandobrücke gebracht.
"Es gibt Kapitäne, die wollen 'ihr' Schiff eigenhändig an die Kaimauer steuern. Das geschieht dann auf deren Verantwortung. Da geben wir lediglich Tipps. Die meisten aber lassen uns ans Steuer. Schließlich kennen wir uns im Hafen am besten aus", sagt Pérez. So seien es fast immer die Lotsen, die entsprechend der Vorschrift alle Schiffe, die größer als 500 Bruttoregistertonnen sind, in den Port hinein- oder wieder hinausbugsieren. Hierfür benötigen sie, um als Hafenlotse zugelassen zu werden, jahrelange Erfahrung sowie sämtliche Schiffspatente. "Wir müssen jede Art von Schiff beherrschen. Dadurch werden wir Lotsen zum besten Freund des Kapitäns."
Palma ist dabei kein einfacher Hafen, weiß Pérez, der Jahre im atlantischen Vigo gearbeitet hat. Dort machen Wind, Regen und hohe Wogen den Lotsen zu schaffen. In Palma ist es hingegen die zum Manövrieren relativ enge Wasserfläche im Hafen. Hinzu kommt: Die einzige Ein- und Ausfahrt wird von allen genutzt; den größten Pötten ebenso wie den kleinsten Fischerbötchen. "Da kommt man sich leicht in die Quere. Wir müssen dann als ,Besen-Boot' die Einfahrt für die Kreuzfahrtschiffe freifegen."
Das Konzessionärsunternehmen "Corporación de Prácticos de Puerto de Palma" betreibt drei Lotsenboote. Die Männer an Bord sind nicht nur stolz auf ihr nautisches Vermögen, sie gelten auch als ziemlich modern. Denn erst im April wurden sie mit dem internationalen Sicherheitszertifikat ISPO ausgezeichnet. Zwei Jahre lang hatten die Mitarbeiter - sechs Lotsen und zwölf weitere Seeleute - sich eigens fortbilden und prüfen lassen. Vergeben wurde das Zertifikat von der Prüfungsgesellschaft Lloyd's Register. Neben der fachlichen Dienstleistung wurden auch die Sicherheit am Arbeitsplatz sowie das Engagement des Unternehmens in Sachen Umweltschutz unter die Lupe genommen.
"Wir sind die Einzigen mit dieser Auszeichnung am Mittelmeer", sagt der Chef de Lotsen, Pere Marroig, "und wir ziehen so mit Häfen wie Rotterdam, Liverpool und Amsterdam gleich."
(aus MM 41/2016)